In der Türkei werden immer häufiger Konzerte und Festivals von Künstlern abgesetzt, die nicht auf Regierungslinie sind. Oft stecken islamistische und nationalistische Gruppen dahinter. Von Elmas Topcu und Aynur Tekin
"Genuss, Heilung und Kunst" - das versprachen die Macher des Festivals "Aromatherapie" in der nordwestlichen türkischen Provinz Balikesir und hielten es auch: Drei Tage lang konnten die Besucher gesunde Leckereien aus der Region ausprobieren, in Seminaren mehr über die Heilkraft der Natur erfahren und abends auf Konzerten ausgiebig feiern. Nur das Highlight, das Abschlusskonzert der bekannten Popsängerin Hande Yener, wurde plötzlich abgesagt.
Zuvor waren islamistische und ultranationalistische Gruppen im Netz Sturm gegen sie gelaufen: Die 50-Jährige sei "sittenlos", wie könne sie dort auftreten? Yener mit ihren freizügigen Bühnenoutfits und ihrer Unterstützung der LGBTQ-Community ist seit langem eine Hassfigur für diese Kreise.
Nicht nur das Konzert, auch das Festival wollten sie verhindern. In einer Erklärung riefen 26 regierungsnahe islamistische und ultranationalistische Vereine und Stiftungen die Behörden dazu auf, "Festivals dieser Art" gänzlich zu verbieten. Sie behaupteten, dass solche Kulturveranstaltungen die Menschen zu "sittenlosen" Beziehungen, moralischer Verwahrlosung, zum Alkohol- und Drogenkonsum und zu Aufbegehren und Aufruhr anstifteten.
Künstler werden reihenweise angefeindet
Yener, die sich mit Regierungskritik bisher zurückgehalten hatte, bestätigte, dass ihr Konzert auf Druck islamistischer und ultranationalistischer Gruppen untersagt worden war. In einem Post auf ihren Social Media-Kanälen schrieb sie, sie werde weiterhin mit ihrer ganzen Energie und Liebe auf der Bühne stehen. In Anspielung darauf, wie tief die Absage sie enttäuscht und verletzt hat, fügte sie hinzu: "Wir werden uns gegenseitig heilen."
Vor Yeners Show waren Auftritte zahlreicher anderer Künstler abgesagt worden. Laut der Beobachtungsplattform für Kunstfreiheit SÖZ haben solche Absagen insbesondere seit einem Jahr zugenommen. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres seien 27 Künstler Opfer von Hetzkampagnen, Drohungen oder Angriffen geworden, mehr als 15 Veranstaltungen seien untersagt worden. Gegen Künstler laufen nach Angaben von SÖZ derzeit 37 Ermittlungsverfahren und Prozesse. Cihan Aymaz, ein Straßenmusiker, sei im selben Zeitraum getötet worden.
Von Anfeindungen sind Künstlerinnen öfter betroffen als ihre männlichen Kollegen. Auch LGBTQ-Künstler, die sich geoutet haben, werden vermehrt Opfer gnadenloser Hetzkampagnen.
So wie der beliebte Sänger und Songwriter Mabel Matiz. Er ist seit der Veröffentlichung seines Videoclips "Karakol" ("Polizeiwache") vor einem Jahr Zielscheibe massiver Angriffe. Wegen einer angedeuteten Liebesgeschichte zwischen zwei Männern erklärten ihn islamistische und nationalistische Gruppen für vogelfrei. Immer wieder werden seine Konzerte abgesagt, wie jüngst im Juni.
Überwiegend werden die Städte, die solche Veranstaltungen untersagen, von der Regierungspartei AKP regiert. Wenn die Bürgermeister der Opposition angehören, schreiten zum Teil Gouverneure ein, zumeist wegen angeblicher Sicherheitsbedenken.
Künstlerinnen und LGBTQ-Künstler werden öfter zur Zielscheibe
Verbote dieser Art sind in der Türkei eigentlich nicht neu. Allerdings galten sie früher eher kurdischen Künstlern oder Theatergruppen; seit einem Jahr hat sich der Kreis der unerwünschten Kunstschaffenden drastisch erweitert.
Dabei hatten sich viele Menschen im vergangenen Jahr sehr gefreut, als die Pandemieauflagen aufgehoben wurden - endlich konnten sie wieder gemeinsam feiern. Dann kam im Frühjahr schon das erste Verbot: In der Universitätsstadt Eskisehir durfte das bekannte Anadolu-Fest nicht stattfinden. Dem folgten weitere Verbote und Absagen von Festivals und Konzerten - das geht bis heute so weiter.
Oft sind die Umstände, die zu einer Absage führen, identisch. Zuerst starten islamistische oder ultranationalistische Stiftungen oder Bruderschaften eine Hetzkampagne gegen eine Veranstaltung oder einen Künstler.
Dann wird der Künstler persönlich diffamiert. Anschließend wird über Alkoholkonsum, gemeinsames Feiern von Frauen und Männern geklagt, darüber, dass solche Veranstaltungen zu "moralischer Verwahrlosung" führten und dem Familienbild schadeten. Als nächstes werden Veranstalter und Stadtverwaltungen unter Druck gesetzt. Mit offiziellen Beschwerden bei der Polizei wird der Druck noch einmal erhöht.
Forderungen nach "Halal-Feiern"
Für Burhan Sesen, Sänger und Vorsitzender des Musikerverbandes MÜYOBIR, sind die Verbote und Absagen willkürliche Bestrafungen der Musikszene, die seit der Pandemie ohnehin unter einer schweren wirtschaftlichen Krise leidet. Nach seinen Angaben arbeitet mehr als eine Million Menschen in der Festivalbranche. Wer zum Verbot aufrufe, setze die Zukunft dieser Menschen aufs Spiel, kritisiert Sesen.
Außerdem findet er es widersprüchlich, dass einerseits der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Annäherung an die EU sucht, andererseits aber regierungsnahe Gruppen darauf bestehen, eine Art "Halal-Feiern" durchzusetzen: Einige Gruppen fordern immer wieder getrennte Plätze für Frauen und Männer bei Veranstaltungen, falls diese nicht ganz verboten werden.
Sesen ist erstaunt, mit welchen Argumenten sie intervenieren. "Ein muslimischer junger Mann wird doch nicht wegen eines Konzertbesuches aufhören zu beten oder anfangen Alkohol zu trinken."
Auch Cangül Örnek, Politikwissenschaftlerin von der Universität Maltepe, kritisiert die Absagen von Konzerten und Veranstaltungen. Offensichtlich sei das Regime so weit von Rechtsstaatlichkeit entfernt, dass manche in der Bevölkerung glaubten, die Entwicklungen im Land nach ihren eigenen Wünschen beeinflussen zu können.
Ihrer Meinung nach haben bestimmte Gruppen staatliche Institutionen unterwandert und unter sich aufgeteilt. Und die türkische Regierung arbeite wie eine Koalition muslimischer Bruderschaften. Laizistisch sei das Land nur noch auf dem Papier.
Örnek glaubt außerdem, dass Verbote von Kulturveranstaltungen die Bildung kultureller Blasen im Land vorantreiben könnten. Alle würden dann unter sich bleiben, fürchtet sie.
Insbesondere junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Schichten können ihrer Meinung nach nicht mehr zusammenkommen und sich austauschen - als ob eine Mauer zwischen ihnen hochgezogen worden sei.
Elmas Topcu und Aynur Tekin
© Deutsche Welle 2023
Author: Justin Brandt
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